Zwischentöne – Lernen fern vom Corona-Lärm
Wir setzen uns für die gesellschaftliche Verarbeitung der Coronazeit in der Schweiz ein. Krisen können Spannungen und Polarisierung verstärken und den sozialen Zusammenhalt gefährden, wenn wir sie nicht gemeinsam angehen. Konkret arbeiten wir mit Dialogformaten. Aus persönlichen Lebensgeschichten aus der Coronazeit entsteht eine Wanderausstellung und ein illustriertes Buch. Das lädt zu einer moderierten Dialogreihe ein. Verteilt über alle Landesteile kommen Menschen an 46 Orten ins Gespräch. Diese Erfahrungen werden zum Schluss mit Parlament und Verwaltung diskutiert – um zu lernen für kommende Krisen.
Warum?
Der Grossteil der Schweizer Bevölkerung ist erleichtert, dass Corona ihren Alltag, ihre Entscheidungen und Diskussionen nicht mehr dominiert. Viele sind müde und wollen vorwärts schauen − merken aber gleichzeitig, dass die Coronazeit unbefriedigende Spuren im demokratischen Miteinander, in der Gesellschaft oder im Freundes- und Familienkreis hinterlassen hat. Die Resultate des letzten COVID-19-Referendums zeigen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung nach wie vor Gesprächsbedarf haben. Trotz der überaus entspannten Pandemielage lehnten im Juni 2023 immer noch 883’740 Stimmberechtigte das Gesetz ab − in drei Kantonen gab es sogar eine Nein-Mehrheit. Dies entspricht 38% der Stimmenden und immerhin 10% der Bevölkerung.
Wieso jetzt?
Wir sind deshalb überzeugt, dass das Projekt zum richtigen Zeitpunkt kommt. Die Friedens- und Konfliktforschung zeigt, dass Krisen gesellschaftliche Spannungen verstärken können, wenn sie nicht gemeinsam verarbeitet werden. In der Schweiz ist dies besonders wichtig, da die existierende Polarisierung im Vergleich sehr hoch ist. Viele wollen nach wie vor gehört werden − und driften mangels gesellschaftlichen Prozess in Verschwörungsmythen ab. In einschlägigen Diskussionsforen kommt dieses tiefe Bedürfnis immer wieder vor. Mit etwas Abstand zum Pandemiegeschehen ist das Thema auch nicht mehr so aufwühlend − menschliche Begegnung und differenzierter Dialog werden wieder möglich. Anders als in Liechtenstein oder Österreich gibt es in der Schweiz bisher keine breit abgestützten Pläne um die Coronajahre gesamtheitlich − über das gesundheitspolitische Pandemiegeschehen hinaus − aufzurollen. Erst Mitte September 2023 hat der Ständerat auf Initiative der FDP eine Evaluierung aller Massnahmen angestossen.
Was sagen andere zu unserer Idee?
Als interessant bezeichnet Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter das Projekt. «Die Pandemie haben wir supergut überwunden. Jetzt müssen wir ‹Krise lernen›.» Die Schweiz sei als erfolgsverwöhntes Land darin nicht geübt. Quelle: Züri Today
Die Gräben, die in der Pandemie entstanden seien, seien knapp gekittet worden, sagt Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber. «Gewisse fundamentalistische Ideen haben dagegen an Zulauf gefunden.» Auch in der Politik falle ihr auf, dass die Diskussionen polarisierender als früher verliefen. «Daher unterstütze ich alle Prozesse zugunsten des friedlichen und konsensorientierten Umgangs in der Gesellschaft sehr». Quelle: Züri Today
Wie soll das funktionieren?
Um die gesellschaftspolitische Verarbeitung der Coronazeit konstruktiv zu unterstützen, braucht es nationale und ergebnisoffene Dialog- und Partizipationsprozesse, wo Menschen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen gesehen und gehört werden. Diese Prozesse müssen in der Schweizer Bevölkerung verankert sein und Räume bieten, um unterschiedliche persönliche Betroffenheiten gemeinsam zu verarbeiten. Viele nehmen an der hoch polarisierten Debatte zur Coronazeit nicht teil, weil sie befürchten, mit Aussagen in das eine oder andere politische Lager gesteckt zu werden. Dieses Projekt bietet Raum für alle, sich zu der Coronazeit zu äussern, weil es explizit aus der Zivilgesellschaft kommt und nicht politisch motiviert ist. Wir schauen auch über den Schweizer Tellerrand und lassen wichtige Lernerfahrungen aus der Konfliktbearbeitung im Globalen Süden und aus Nachbarländern einfliessen. Als Initialzündung für eine neue offene und innovative Dialog-Kultur in der Schweiz geben diese Partizipationsprozesse Impulse für die Politik und gelebte Demokratie.
… und konkret?
Die “mündliche Geschichte” der Schweizer Coronazeit in 246 Erzählungen. 246 Personen, welche die Schweizer Bevölkerung möglichst gut abbilden, dokumentieren über die Oral History Methode ihre Erfahrungen der Coronazeit. Menschen werden nach Kriterien ausgewählt, um die Bevölkerung in ihrer regionalen, sozialen und politischen Vielfalt repräsentativ abzubilden. Diese Erzählungen werden ergänzt von einer Diskursanalyse auf den sozialen Medien und einer systemischen Konfliktanalyse zu den sozialen Spannungen und Konfliktthemen rund um Corona. Die mündlichen Geschichten werden verschriftlicht und als illustriertes Buch aufbereitet, um der Bevölkerung damit ein Zeitzeugnis der Coronajahre zur Verfügung zu stellen. Weitere Formate wie Illustrationen oder künstlerische Interpretationen für breiten, nicht-schriftlichen Zugang werden angestrebt. Zusätzlich werden Ausschnitte daraus und aus der Polarisierungsanalyse in einer Wanderausstellung “Die Coronazeit in 246 Geschichten” aufbereitet, welche (wo gewünscht) auch mit Fotos der Erzählenden bebildert wird.
Dialogprozesse von der lokalen bis zur nationalen Ebene. Eine Dialogreihe auf lokaler Ebene in 46 Orten der Schweiz lädt die Bevölkerung ein, ihre Erfahrungen und Einschätzungen zu teilen. Diese Einsichten werden auf der regionalen Ebene zusammengeführt, und dann im Abschluss nationalen politischen Vertreter:innen präsentiert. Zuerst kommt eine kleine Gruppe Freiwilliger aus dem Oral History-Prozess kommt zusammen, um auf der Grundlage der Erkenntnisse aus diesem Prozess die lokalen, regionalen und nationalen Zuhörprozesse im Detail auszugestalten. In 46 Orten (zwei pro Kanton) finden im Abstand von einigen Wochen zwei jeweils halbtägige Zuhörformate statt, die Menschen aus der jeweiligen Region einbinden. Die Wanderausstellung wird von Ort zu Ort getragen und dient als Diskussionsanstoss. Erkenntnisse aus einzelnen Orten werden dann wiederum zum nächsten Ort weitergetragen. Nach Abschluss der lokalen Dialogreihe werden die Resultate überregional von Vertreter:innen der jeweiligen Orte zusammengetragen, in sieben verschiedenen sprachlich sortierten Unterregionen: drei in der Deutschschweiz, zwei in der Romandie, und jeweils eine im italienisch- und romanischsprachigen Teil der Schweiz. Diese analysieren Gemeinsamkeiten und regionale Unterschiede. Vertreter:innen aus den sieben Regionen bringen die Resultate zusammen in Bern, wo sie gemeinsam an die Politik getragen werden. Verschiedene Runde Tische mit Parlamentarier:innen und Behördenvertreter:innen dienen dazu, aus den Erfahrungen und Einschätzungen der Bevölkerung zur Coronazeit Lektionen abzuleiten für kommende Krisen.
Hast Du Ideen, Feedback oder Interesse, das Projekt mitzufinanzieren? Kontaktiere uns! claudia(at)howtobuildup.org und cr(at)corechange.ch.